Ungewisse Zukunft (Zur Einführung)
Die Zukunft scheint heute ungewisser denn je. Der Eindruck täuscht nicht, denn die Unbestimmbarkeit dessen, was auf uns zukommen wird, ist in der Verfasstheit der modernen, vernetzten Welt begründet. Darauf ist zurückzukommen. Die „gefühlte“ Ungewissheit der Zukunft ist aber auch unserem momentanen Verhältnis zur Zukunft geschuldet. Der Mensch ist immer auch auf die Zukunft bezogen – das zeichnet ihn gegenüber allen anderen Lebewesen aus. Was er jedoch unter Zukunft versteht, unterliegt einem Wandel, der sich nach der vorherrschenden Erfahrung richtet, wie die Zeit vergeht. Verschiedene Zeiten hatten verschiedene Wahrnehmungen des Zeitenverlaufs. Vor der Industrialisierung fand eine Mehrheit ihr Auskommen in der Agrikultur. Die dominante Erfahrung, wie die Zeit verläuft, war die des Kreislaufes: Die Jahreszeiten gaben den Takt in einem Kreislauf von Säen, Wachsen, Ernten, der endlos weiterdreht. In einer zyklischen Zeiterfahrung ist Zukunft daher dasselbe wie die Vergangenheit. Der Zukunft haftete wenig Ungewissheit an, wenn von Katastrophen wie Kriege, Seuchen, Dürren oder Überschwemmungen abgesehen wird – extreme Ereignisse, die für unsere Vorfahren in all den Jahren aber doch eher selten stattfanden.
Zukunft ist nicht mehr, was sie einmal war
Georges T. Roos
Die Industrialisierung hat das Zyklische der Zeiterfahrung verändert – hin zu einem linearen Zeitenverlauf: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden eine Linie, die überdies nach rechts oben verläuft. Die Zukunft in einer linearen Zeiterfahrung ist nicht nur etwas völlig anderes als die Vergangenheit, sie verspricht zudem besser als die Vergangenheit zu sein. Daher ist die Zeitlinie nach oben gerichtet. Zukunft ist nun Fortschritt und der Modus im Verhältnis zur Zukunft ist die Zuversicht: Unsere Kinder werden es einmal besser haben als wir; der Wohlstand steigt; die Technik und die Medizin werden immer besser. Die zunehmende Globalisierung, die Telekommunikation und zuletzt das Internet hat die Zeiterfahrung noch einmal verändert. Die Kausalketten, die eine Annahme für die Zukunft aufgrund von vorangegangen Ereignissen gestattet hätte, versagen zusehends: Statt einer Abfolge von Schritten erleben wir das Neue immer mehr als plötzlichen Einbruch, alles aufs Mal, durch nichts angekündigt, verursacht durch Zusammenhänge, die nicht erkannt und oftmals noch überhaupt nicht gekannt waren. Vergangenheit und Zukunft werden dadurch zu einer ausgedehnten Gegenwart in „real time“. Durch die Plötzlichkeit des Neuen ist die Vergangenheit und Zukunft zusammengeschrumpft zu einem Punkt in der Gegenwart mit Explosivkraft: Unmittelbar könnte alles anders sein! Philosophen sprechen von der pointillistischen Zeiterfahrung. In ihr erscheint die Zukunft ungewiss.
Unknown Unknowns
Nassim Taleb in seinem Buch „Der Schwarze Schwan“ vertritt die These, dass alle wichtigen Ereignisse in der Geschichte der Menschheit unvorhergesehen waren. Sie haben uns überrascht. Niemand hat damit gerechnet. So ist es den Zoologen des alten Europas ergangen, als in Australien wider Erwarten Schwäne entdeckt wurden, die schwarz waren. Zuvor waren sie aufgrund der immer gleichen Beobachtung zum Schluss gekommen waren, dass alle Schwäne weiss sein müssen, weil noch nie ein Schwan in anderer Farbe gesichtet wurde. Die These Talebs von der zwingenden Überraschung alles Neuen ist erhellend aber nicht uneingeschränkt wahr. Der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat das im Hinblick auf Ungewissheiten des damals bevorstehenden Irak-Feldzuges so formuliert: Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie kennen. Daneben gibt es Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen (Known Unknowns). Leider aber, so Rumsfeld, gibt es darüber hinaus Dinge, von denen wir noch nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen (Unknown Unknowns). Das sind zweifelsohne die gefährlichsten Zukünfte, auf die sich schwierig vorzubereiten ist.
Übersetzen wir das erste „Known“ mit Daten oder Fakten, das zweite „Known“ mit Modellen oder Theorien (also das Verständnis dessen, was die Fakten uns zeigen), dann könnte man Rumsfelds Ausführungen auf das Wissen über die Zukunft übertragen: Wenn wir über das Verhalten von Dingen empirische Daten haben (z.B. wenn ich den Löffel loslasse, fällt er zu Boden) und dieses Experiment immer wieder mit immer derselben Beobachtung wiederholen können und wir durch die Wissenschaft sogar noch die Erklärung haben, warum das so ist (Schwerkraft), dann ist eine Zukunftsprognose eine einfache Sache: Wenn ich diesen Löffel loslasse, wird er zu Boden fallen. Wir wissen sogar wie schnell er in Abhängigkeit der Fallhöhe auf dem Boden aufschlägt und wie lange der Fall dauern wird.
Mit Big Data und besseren Modellen wird Zukunft besser vorhersehbar
Georges T. Roos
Unglücklicherweise sind die meisten Fragen, die wir an die Zukunft stellen, nicht so einfach. Ob es das Weltklima, die Finanzwelt, die Gesellschaft oder die Kräfteverhältnisse in einem unruhigen Staat sind, immer fehlen die Modelle oder Theorien, die diese Systeme wirklich realitätsnah abbilden. Diese Fragen sind zu komplex. Die Weltformel ist noch nicht entdeckt – auch wenn ehrgeizige Wissenschafter daran arbeiten, wie etwa Dirk Helbing an der ETH Zürich, der mit FuturICT versucht komplexe Phänomene letztlich vorhersehbar zu machen. Ich bin zuversichtlich, dass wir vieles besser verstehen werden. Aber die gänzliche Durchdringung komplexer Systeme wird möglicherweise niemals gelingen. Damit bleiben „Schwarze Schwäne“, damit bleibt Ungewissheit, damit bleiben böse – und auch gute – Überraschungen.
Agilität, Innovation, Resilienz
Ist also jeder Versuch, die Zukunft vorzusehen, sinnlos? Perikles, der griechische Staatsmann, hat eine Formel überliefert, die gerade in ungewissen Zeiten angemessen ist: Es kommt nicht so sehr darauf an, die Zukunft vorherzusehen, sondern auf sie vorbereitet zu sein. Wer mit Überraschungen und schnellem Wandel rechnet, kann sich entsprechend aufstellen. Er gestaltet sich, sein Unternehmen oder sein Land agil, um auf rasche Veränderungen ebenso rasch reagieren zu können. Er klammert sich nicht an seinen Plan, seine Strategie oder die Budgetvorgaben, sondern sucht immer wieder die innovative Lösung. Wer dagegen glaubt, alles unter Kontrolle halten zu müssen, hat bereits verloren. Der Kontrollwahn macht ihn unflexibel und starr. Stattdessen ist es vorteilhaft, sich so aufzustellen, dass er nach einem Schock in kurzer Zeit zumindest die Hauptfunktionen wieder in Gang gesetzt werden können. Das verstehe ich unter Resilienz: Schnell, nach einem Schock, zumindest wieder in den wesentlichen Aufgaben funktionsfähig zu sein.
Trends und Trendbrüche
Nur weil alles so schnell dreht, des Teufels Werk um es mit Goethe zu sagen, der im Faust das Wort „veloziferisch“ der Sprache schenkt (der Zusammenzug von Velocitas, lat. Geschwindigkeit, und Luzifer, der Teufel), wäre falsch zu sagen, dass sich alles sprunghaft und für uns überraschend verändert. Es gibt auch die Known Knowns und die Known Unknowns, um noch einmal Donald Romsfeld zu bemühen: Kontinuierliche Entwicklungen, die von heute auf morgen, von Jahr zu Jahr kaum einen Unterschied machen und erst in grösseren Zeitsprüngen ihre Veränderung entfalten (Known Knowns), und die Trendbrüche, die in einer absehbaren, wenn auch nicht präzis datierbaren Zukunft die Verhältnisse deutlich verändern werden (Known Unknowns). Während erstere also bekannt und in den Folgen abschätzbar sind, und das Problem lediglich in einer manchmal erstaunlichen Ignoranz von Politikern und Wirtschaftsführern besteht, die standhaft wegschauen, sind letztere zwar absehbar, aber in den konkreten Folgen noch unsicher. Zu den Known Knowns gehören etwa die Folgen der Alterung westlicher Gesellschaften. Die Faktenlage ist klar und die Unveränderbarkeit der Entwicklung über mehrere Jahrzehnte wohlbegründet. Trotzdem versuchen Ignoranten dem Publikum, ein X für U vorzumachen.
Anspruchsvoller sind die Trendbrüche – besonders sie sind aber wichtig. Sie werden die Rahmenbedingung für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft grundsätzlich verändern. Die Folgen können zwar nicht vorhergesehen, aber zumindest in Möglichkeiten beschrieben werden. Die Rede ist von Szenarien. Ich will auf den nächsten Seiten solche erkennbaren Trendbrüche beschreiben, die Indikatoren nennen, die eine Früherkennung erlauben, in einem plausiblen Szenario beschreiben, was sie für unsere Zukunft bedeuten könnten, aber auch darstellen, welche alternativen Entwicklungen zu einem anderen Szenario führen könnten bzw. das beschriebene Szenario verhindern könnten. Ich gehe dabei das Wagnis ein, das beschriebene Szenario als das wahrscheinliche zu beschreiben.