Was kommt nach der Ukraine- und der Energiekrise?
Die langfristigen Herausforderungen als Kompass
Die russische Invasion der Ukraine und die Energiekrise haben zu einer grossen Unsicherheit über die nahe Zukunft geführt. In einer solchen Lage ist es schwierig, den langfristigen Kompass zu halten. Aktuelle Krisen haben immer Vorrang, aber um nicht kurzsichtig das Koordinatensystem auf den Kopf zu stellen, braucht es trotzdem oder gerade deswegen den Blick in die mittel- bis langfristige Zukunft. Was sehen wir dann? Mehrere grosse Transformationen. Ein Versuch einer Einordnung der aktuellen Unsicherheiten in den grösseren Zukunftshorizont.
Im Fokus der Zukunftsforschung ist die langfristige Zukunft, mehr das Übermorgen als das Morgen. Wenn wir die Veränderungen der nächsten 20 Jahre im Blick haben, werden fünf Transformationsprozesse unsere Welt signifikant verändern: Die digitale Transformation, die ökologische Transformation, die demografische Transformation, die Bio-Transformation und die geopolitische Transformation. Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen stellen zwei davon ins Rampenlicht: Die geopolitische Transformation und die ökologische Transformation. Im Hintergrund wirkt auch die demografische Transformation. Wie meist, wird sie noch kaum richtig wahrgenommen.
Der Krieg in der Ukraine rückt zwei langfristige Transformationen ins Rampenlicht: Die geopolitische und die ökologische Transformation.
Dass 2022 ein Krieg auf europäischem Boden ausbrechen würde, hat viele unvorbereitet erwischt. Europa wähnte sich im ewigen Frieden, weil bewaffnete Konflikte wie etwa die Kriege auf dem Balkan oder in Georgien und die Annektierung der Krim kaum im kollektiven Gedächtnis hängen blieben. Warnsignale von Geheimdiensten zu russischen Plänen verhalten weitgehend wirkungslos. Beredtes Beispiel war die Kontroverse um Nord Stream 2: Die Ablehnung der Person von Donald Trump reichte aus, die Warnungen vor einer zu grossen Abhängigkeit und damit Erpressbarkeit als irrational und kaltkriegerisch abzutun. Das rächt sich nun. Wir fürchten uns davor im nächsten Winter zu frieren.
Der Westen versteht den Ukraine-Krieg als einen Kampf um Freiheit, Demokratie und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, aber natürlich geht es auch um Einflusssphären. Die ukrainischen Streitkräfte werden deshalb von den USA, Deutschland, Frankreich, Italien und weiteren westlichen Ländern mit Waffen und Geheimdienstinformationen unterstützt. In anderen Worten: In der Ukraine findet ein Krieg geopolitischer Dimension statt, was auch der Leseart Russlands entspricht. Putin will die Westannäherung der Ukraine verunmöglichen. Der Kalte Krieg 2.0 ist lanciert.
Langfristig betrachtet ist dieser Krieg aber nur ein Vorspiel zu einer viel einschneidenderen geopolitischen Transformation.
Langfristig betrachtet ist dieser Krieg aber nur ein Vorspiel zu einer viel einschneidenderen geopolitischen Transformation. Langfristig dürfte die Rivalität zwischen China und den westlichen Ländern die Geopolitik tiefgreifender verändern, mit viel einschneidenderen Folgen für Wohlstand, Sicherheit und den Handel auf dieser Welt.
Die Beziehungen der westlichen Wirtschaft mit China sind um ein Mehrfaches wichtiger als diejenigen zu Russland. China ist der grösste Handelspartner Deutschlands. 2021 wurden zwischen den beiden Volkswirtschaften Waren im Wert von über 245 Mrd. Euro gehandelt. Für deutsche Produkte war China im vergangenen Jahr der zweitwichtigste Abnehmer (nach den USA). In der deutschen Import-Rangliste hat China gar die Nase vorn. Auch für die USA war China im letzten Jahr das wichtigste Importland: 18 Prozent aller Importe in die USA kamen aus China. Für die Schweiz ist China hinter den USA und Deutschland das drittwichtigste Exportland.
Die Spannungen zwischen den USA und China haben über die letzten Jahre kontinuierlich zugenommen. Die chinesischen Drohungen gegen Taiwan, die Zerschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong, die militärischen Expansionen im südchinesischen Meer und auch die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Minderheiten und Dissidenten in China selbst, haben zu Irritationen und ersten Sanktionen geführt. Es könnte aber noch schlimmer werden:Was geschieht, wenn ein offener, bewaffneter Konflikt zwischen den USA und China ausbricht, etwa weil China Taiwan mit Waffengewalt wieder einverleiben sollte?
China ist – oder wird es bald sein – in verschiedenen Zukunftstechnologien führend, sei es in künstlicher Intelligenz, Solartechnologie oder Chips.
Die Abhängigkeit ist nicht nur wegen des grossen Volumens der Handelsbeziehungen äusserst bedrohlich. China ist in verschiedenen Zukunftstechnologien führend, sei es in künstlicher Intelligenz, Solartechnologie oder Chips. Aus China stammen 50 Prozent aller Handys und Computer, 70 Prozent aller Solarmodule. Vier Autorinnen und Autoren der Harvard Kennedy School haben im Dezember 2021[1] dargelegt, dass China in den letzten Jahren ein ernsthafter Rivale für Schlüsseltechnologien dieses Jahrhunderts geworden sind: Künstliche Intelligenz, Quanten Computing, Halbleiter, Biotechnologie und erneuerbare Energien. In einigen dieser Technologien ist China laut ihrem Report bereits die Weltnummer Eins, in den anderen Bereichen dürfte China die USA bis in 10 Jahren überholt haben. Das hält CIA-Direktor Bill Burns für gefährlich: Schlüsseltechnologien seien das Hauptfeld des Wettbewerbs und der Rivalität zwischen China und den USA.
Während Europa von Russland in erster Linie Rohstoffe und Energie bezieht, die auf verschiedene Weise substituierbar sind (mehr zu diesen Implikationen weiter unten), ist die drohende Abhängigkeit bei Schlüsseltechnologien weitaus gravierender.
Die USA haben auf dieses Szenario reagiert: Unlängst hat der Kongress den «Chips and Science Act of 2022» verabschiedet, der ein 280 Mrd. Dollar Unterstützungspaket für die Chip-Industrie, die Halbleiter-Herstellung und die Funkzugangstechnologie vorsieht. Die enormen Zuschüsse sollen die Abhängigkeit von China reduzieren helfen. Auch die EU hat erste zaghafte Reaktion gezeigt, in dem etwa 2021 Fördermittel für eine europäische Batterieproduktion über 2.9 Mrd. Euro gesprochen wurden.
Aber besteht überhaupt ein realistisches Risiko, dass zwischen China und dem Westen in den nächsten Jahren ein kalter oder gar heisser Krieg ausbrechen wird? Es gibt gute Argumente dagegen, aber es ist wie mit dem Ukraine-Krieg: Wenn das schlimmstmögliche Szenario einfach verdrängt wird, kann sich das rächen. Das geopolitische Austarieren von Macht und Einfluss ist im vollen Gang und verschiedene Eskalationsstufen sind zu berücksichtigen.
Will China die Autarkie? China setzt darauf, langfristig nur noch zu exportieren und nicht mehr zu importieren.
Chinas Apparat ist bekannt für seine langfristige Perspektive. Interessant ist in diesem Kontext, wie China die Zukunft des Aussenhandels sieht. Xi Jinping will zwar weiter exportieren und damit die übrige Welt am Bändel haben, selbst aber autark werden. Diese These vertritt zum Beispiel Heribert Dieter, Gastprofessor für internationale politische Ökonomie an der Zeppelin-Universität und bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. In einem Gastkommentar für die NZZ schrieb Dieter im Juni 2021:
«Generalsekretär Xi Jinping setzt auf Selbstversorgung der chinesischen Wirtschaft und kehrt der Weltwirtschaft den Rücken. (…) Ende des Jahres 2020 kündigte er dann das neue Konzept der ‘doppelten Zirkulation’ an. Gemäss diesem setzt die chinesische Politik im gegenwärtigen Fünfjahresplan auf die Stärkung der Binnennachfrage, will zugleich von ausländischer Technologie unabhängig werden und dennoch weiterhin Industriegüter exportieren. Der Rest der Welt soll also von Lieferungen aus China abhängig bleiben, während China selbst seine wirtschaftliche Autonomie signifikant steigern möchte.»[2]
In den Worten von Dieter: «Xi Jinping setzt auf Autarkie.» Die Messer sind gewetzt. Es ist unschwer zu erkennen, dass – Stand heute – die Erpressbarkeit des Westens höher ist als diejenige Chinas – und noch grösser wird, falls nichts dagegen unternommen wird.
China (und Russland) strecken mehr als nur Fühler nach Afrika aus. Afrika ist ein Schlüsselkontinent der Zukunft, allein schon aufgrund der demografischen Transformation.
Wirtschaftliche Abhängigkeit führt auch zu politischer Abhängigkeit. China (und Russland) strecken mehr als nur Fühler nach Afrika aus: die einen investieren, die anderen schicken Söldner. Afrika ist ein Schlüsselkontinent der Zukunft, allein schon aufgrund der demografischen Transformation. Dazu nur so viel: Vom prognostizierten globalen Bevölkerungswachstum von 2 Milliarden Menschen bis 2050 findet nach den Projektionen der UNO die Hälfte davon in Afrika statt, was fast einer Verdoppelung der afrikanischen Bevölkerung gleichkommen würde (2018-2050). Immer mehr der über 50 afrikanischen Staaten stehen in der finanziellen Schuld Chinas und könnten in Zukunft – etwa in internationalen Gremien – die Stimme Chinas vertreten müssen. Europa und die USA haben den zukünftigen Stellenwert Afrikas noch unzureichend erkannt.
Chinas Bemühungen, weltweit Abhängigkeiten zu schaffen, übersteigt den afrikanischen Kontinent. Mit der Belt and Road Initiative (neue Seidenstrasse) werden seit 2013 interkontinentale Handels- und Infrastrukturnetze gesponnen, die neben Afrika auch weitere Länder in Asien und selbst in Europa umfassen.
Ein mögliches Szenario ist, dass in einer mittel- oder langfristigen Zukunft die globale Welt in zwei Einflussbereiche aufgeteilt ist, der eine unter der Führung Chinas, der andere unter der Führung des Westens mit den USA als Hauptagent.
Worauf also müssen wir uns einstellen? Ein mögliches Szenario ist, dass in einer mittel- oder langfristigen Zukunft die globale Welt in zwei Einflussbereiche aufgeteilt ist, der eine unter der Führung Chinas, der andere unter der Führung des Westens mit den USA als Hauptagent, und dass Handel, Forschung und Sicherheit nur mehr innerhalb des jeweiligen Einflussbereiches stattfinden werden – in Rivalität gegenüber dem anderen. Wie lange dem Westen Zeit bleibt, sich darauf vorzubereiten ist offen. Es ist aber höchste Zeit, die Weichen zu stellen, wollen wir nicht wieder – wie beim Kalten Krieg 2.0 – auf dem falschen Fuss erwischt werden.
Die zweite aktuelle Krise ist die Energieversorgung. Sie ist primär eine Nebenwirkung des Ukraine-Krieges, weil die Gaslieferungen aus Russland nur noch spärlich erfolgen. Mit dem Gashahn hat Putin Europa im Griff. Erschwerend kommt hinzu, dass es im Winter auch an Strom mangeln könnte, weil vor allem in Deutschland Strom mit Gas produziert wird, weil die lange Trockenheit zu relativ tiefen Füllbecken in den Stauseen geführt haben und weil ausgerechnet zeitgleich eine ganze Reihe französischer Atomkraftwerke nicht in Betrieb sind.
Langfristig gesehen aber, ist die Energiekrise für die ökologische Transformation, was die Covid-Krise für die digitale Transformation war: Ein Beschleuniger.
Europa baut die erneuerbare Energie verstärkt aus. Das ist geboten, weil im Pariser Klimaabkommen versprochen wurde, dass bis 2050 netto Null des CO2-Ausstosses erzielt sein wird. Nun scheint es, dass die Energiekrise den Bemühungen zuwiderlaufen: Die Schweizer Industrie etwa wird aufgefordert, wenn möglich von Gas auf das schmutzigere Erdöl umzusteigen und in Deutschland lässt der grüne Wirtschafts- und Umweltminister Robert Habeck gar die Kohlekraftwerke wieder anwerfen.
Langfristig gesehen aber, ist die Energiekrise für die ökologische Transformation, was die Covid-Krise für die digitale Transformation war: Ein Beschleuniger. Die Corona-Krise hat die digitale Transformation beschleunigt, der Strom- und Gasmangel werden die Dekarbonisierung von Produktion und Konsum befördern: Zum einen werden die Menschen spüren, dass sie ohne wesentliche Komforteinbussen Energie sparen können. Die Kampagnen der Regierungen öffnen vielerorts die Augen, wie man das Gleiche mit weniger Energie erzielen kann. Zwar wird sich der Spareffekt nach der Krise wieder verkleinern, aber man darf davon ausgehen, dass nicht mehr das verschwenderische Vor-Krisen-Verhalten erreicht werden wird – zumal die hohen Energiepreise zu einem nachhaltigen mässigeren Konsum beitragen werden.
Zum anderen aber werden die Investitionen in nachhaltige Energien hochgefahren, die Verfahren beschleunigt und vereinfacht. Der Zubau erneuerbarer Energie wird zügiger vorangehen.
Die aktuellen Krisen fordern alle: Regierungen, Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen. Die Herausforderungen sind immens. Aber es sind vorübergehende Krisen. Danach kommen grosse Herausforderungen mit Chancen und Risiken. Wir sollten sie trotz aktueller Herausforderungen nicht aus dem Auge verlieren. Gouverner c’est prévoire! Das gilt für die Wirtschaft, die Gesellschaft und selbstverständlich für die Politik.
[1] Alision, G. et al.: The Great Tech Rivalry: China vs the U.S. Belfer Center for Science and International Affairs. December 2021
https://www.belfercenter.org/sites/default/files/GreatTechRivalry_ChinavsUS_211207.pdf
[2] Dieter, H.: «Die Rückkehr der kaiserlichen Handelspolitik – Chinas Parteiführer Xi Jinping setzt auf Autarkie. https://www.nzz.ch/meinung/rueckkehr-der-kaiserlichen-handelspolitik-xi-setzt-auf-autarkie-ld.1627536