Die Zukunft der Ernährung heisst „Human Performance Food“
Zukunftsforscher scheuen sich vor Prognosen. Trotzdem wage ich sie: In zehn Jahren werden wir Ernährung als Performance-Faktor verstehen. Lebensmittel werden zu Mitteln, um mental und psychisch leistungsstärker zu werden. „Brain-Food“, „Power-Food“, „Performance Enhancement Nutrition“ – so oder ähnlich könnten die in Zukunft geläufigen Bezeichnungen lauten. Meine These, die ich darlegen werde, lautet, dass eine neue diätetische Leitgrösse am Horizont steht, die nicht gesund oder schlank machen soll, sondern uns auf dem Weg zum mentalen Spitzenleister dienen wird. Mentale Leistungssteigerung durch Power-Food wird durch verschiedene Megatrends angetrieben. Im Vordergrund steht aber ein sich abzeichnender Paradigmen-Wandel des Megatrends Gesundheit.
Essens-Stile sind Seismographen des gesellschaftlichen Wandels. „Schon immer standen veränderte Essensgewohnheiten, neue Nahrungsmittel und Kochtechniken symbolisch für allgemeine Veränderungen in der Gesellschaft“, behauptet die Studie „Food-Styles“ (2007) des von Matthias Horx gegründeten Zukunftsinstituts – und liefert Belege:
Megatrends und Essens-Stil.
Der Megatrend „Globalisierung“ beispielsweise spiegelt sich gut an der Essenskultur: Fast die Hälfte aller Restaurants- und Gaststättenbesucher Deutschlands wählen mittlerweile „ausländische Gerichte“. Italienische, vietnamesische, thailändische, türkische oder kreolische Küchen bedrängen die Bratwurst mit Rösti ebenso wie den bereits einverleibten Big-Mac. Zum Megatrend Globalisierung gehört aber auch sein Gegentrend zurück zum Lokalen, Nahen und Authentischen. Dabei geht es nicht nur um das Einheimische „Aus-der-Region-für-die-Region“, sondern um eine Region mit Profil: Italienisch essen ist nicht chic, statt dessen speisen wir toskanisch oder piemontesisch.
Auch die Entwicklung zum zeitlich entgrenzten Arbeiten mit dem Büro in der Westentasche im Zuge der Flexibilisierung und Beschleunigung der Wirtschaft spiegelt sich in veränderten Essensgewohnheiten. Take-away, Fast-Food und Bäckereien lösen Restaurants und den heimischen Mittagtisch als Verpflegungsstätten ab, weil die Arbeit die Tagesstruktur tendenziell auflöst. Mit der demografischen Entwicklung, welche Single- und Zweipersonen-Haushalten rasant zunehmen lässt, korrespondiert die Verbreitung von Convenience-Food. Singles und Dinks (double income no kids) fehlen werktags Zeit und Musse zum Kochen.
Die verlorene Unschuld beim Essen
Wertewandel und Individualisierung sind zwei weitere Megatrends, die unsere Gesellschaft kennzeichnen. Sie haben dazu geführt, dass wir auch bei der Ernährung mehr Spielräume und Freiheiten haben. Wir sind frei von der normierenden Kraft der Tradition, zugleich aber auch selber schuld, wenn wir uns falsch ernähren. Das hat zu einer Problematisierung der Ernährung geführt, der wir andauernd und überall begegnen: Am Elternabend in der Schule, in der Hochglanzpostille beim Coiffeur, bei den Ratgeber-Büchern in der Buchhandlung und beim Schwatz mit Freundinnen und Freunden in der Bar. Da kann einem schon mal der Appetit vergehen. Der amerikanische Psychologe Paul Rozin beschreibt, wie sehr Essen bei vielen inzwischen mit Schuldgefühlen und Komplexen verbunden ist. Wir seien geradezu versessen darauf, gesund zu essen, so Rozin. Zu dieser Diagnose passt eine neue Esskrankheit, die sich zu den mittlerweile berühmten Schwestern Bulimie und Anorexie gesellt: Die Orthorexia nervosa. Damit bezeichnet der amerikanische Arzt Steve Bratman die krankhafte Fixierung auf gesundes Essen (orthos, griech. für „richtig“). Die Betroffenen legen sich selbst strenge Ernährungsregeln auf, die sie paradoxerweise krank machen. Mangelerscheinungen können auftreten, da für die krankhaften Gesundesser selbst Gemüse noch mit Giftstoffen belastet sein könnten. Vor allem aber werden sie zu gesellschaftlichen Aussenseitern mit schweren psychosozialen Beeinträchtigungen. Womit wir beim Megatrend Gesundheit gelandet sind.
Megatrend Gesundheit
Gesundheit ist nicht gleich Gesundheit – aber zweifelsfrei ein Megatrend. Allein die ökonomische Perspektive lässt keine andere Deutung zu, macht Gesundheit doch beinahe schon ein Fünftel des BIP der Schweiz aus. Wer genauer hinblickt erkennt allerdings, dass Gesundheit gestern, heute und morgen ganz anderen Paradigmen folgen. Im Augenblick findet der erste Wandlungsschub statt: Gesundheit wird zum Eigenwert. Das war bisher kaum der Fall. In aller Regel wurde Gesundheit nur zum Thema, wenn sie fehlte. Mit Gesundheit beschäftigte man sich, wenn man krank wurde. Dann sollte eine Reparaturmedizin so schnell als möglich wieder den Zustand der Gesundheit herstellen. Einmal geschafft, verschwand Gesundheit wieder in den Raum des Selbstverständlichen, war nur mehr ein Hintergrundrauschen. Diese Zeiten sind vorbei. Unsere Gesellschaft zelebriert eine Gesundheitskultur, die oftmals in einen Gesundheitskult mit quasi-religiösen Zügen umschlägt.
Das Schlagwort nun heisst Prävention. Durch diesen Paradigmenwechsel fühlen sich immer mehr gesellschaftliche Institutionen legitimiert, der Bevölkerung Vorschriften zu machen – und wir Gegängelten merken nicht einmal, welcher Eingriff in die persönliche Freiheit dabei passiert. Besonders eifrig sind die nationalen Gesundheitsämter, wie der blitzschnelle Feldzug gegen die Raucher gezeigt hat. Dass die Gesundheitshüter sich nicht lange beim blauen Dunst aufhalten werden und schnurstracks auf unsere Teller zielen, wird gleich noch zu zeigen sein. Zuerst gilt es aber, den nächsten Paradigmenwandel im Megatrend Gesundheit kurz zu skizzieren, um dann auf diese beiden Wandlungen vertiefter im Zusammenhang mit der Ernährung zurückzukommen. Was also kommt nach dem Gesundheitskult? Verschiedene Indizien und Frühsignale haben einen Brennpunkt und der heisst: Leistungssteigerung. Hirndopping. Human Performance Enhancement. Der Leitgedanke im Megatrend Gesundheit wird morgen sein, wie wir mittels Pharmakologie, Mensch-Maschinen-Schnittstellen und chirurgischen Eingriffen unsere mentale Leistungsfähigkeit steigern können. Ich werde gleich zeigen, inwiefern die Ernährung darin eine wichtige Rolle spielt. Wer jetzt schon die Hände verwirft und meint: Nein, nicht schon wieder Functional Food! Dem sei versichert, dass es nur am Rande darum geht.
Deine Nahrung sei dein Heilmittel
Gehen wir noch einmal zurück zur Reparaturmedizin. Gesundheit war damals nur für den ein Thema, der durch eine Krankheit dazu gezwungen war. Die Heilkraft von Wurzeln, Kräutern, Rinden und Säften rückte in der Spätphase des Reparaturmedizin-Paradigmas in den Vordergrund, als das Unbehagen gegenüber den „pharmakologischen Keulen“ wuchs. Die Wiedererrinnerung an schamanische Quacksalberei, Hexenweisheiten oder schlicht Grossmutters Apotheke könnten wir daher als Frühsignal deuten, dass das alte Paradigma ins Wanken geriet. In der Bewunderung für die Heilkraft der Natur lag bereits ein Hauch von Gesundheitskult mit drin. Da wurde beispielweise Zimt als Heilmittel gegen Verdauungsbeschwerden empfohlen, auch für Linderung bei Blähungen oder um den Appetit anzuregen. Weil schon Paracelsus warnte, dass die Dosis das Gift macht, kamen bereits heilwirksame Lebensmittel mit einem Beipackzettel daher. Um beim schönen Beispiel Zimt zu bleiben, stand darin, dass zu hohe Zimtdosen die Leber belaste, Kopfschmerzen verursache oder gar Krebskrankheiten auslöse könne. Ein Grenzwert für das Cumarin in Zimtsternen war die logische Folge davon.
Richtig eingesetzt, wurden Lebensmitteln aber durchaus Heilwirkungen zugeschrieben. Besonders schön zeigt dies etwa ein Buch mit dem Titel „Deine Nahrung sei den Heilmittel“ der deutschen Heilpraktikern Angelika Gräfin Wolffskeel von Reichenburg. Auch ein gewisser Dr. med. Ulrich Mohr lässt verlauten, „(dass) Lebensmittel (…) präziser und zuverlässiger Heilung in Ganz setzen (können), als jedes Medikament.“ Sein Buch – „Hippokrates Schatztruhe“ – machte aber ebenso wie das Buch der Gräfin klar, dass essen allein nicht gesund machen kann. Mohr gab zu verstehen, „dass ohne die gleichzeitige Neuorientierung der Gefühlswelt, die Ernährungsmodelle früher oder später im Rückfall enden.“ Und überhaupt gelte es zu beachten, welche Auswahl an Lebensmittel für einem persönlich die „vollkommene“ sei und wann die passende Zeit im Tagesverlauf für den Verzehr dieser Lebensmittel sei. Bei der Lebensmittel-Apotheke der Gräfin galt es auch den Wechsel der Jahreszeiten und die „unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Organe im Biorhythmus“ zu berücksichtigen. In der chinesischen Nahrungsmedizin wiederum gilt zu beachten, dass „kalte“ (Yin) und „warme“ (Yang) Lebensmittel im Gleichgewicht sind. „Kalt“ und „warm“ in der chinesischen Welt ist übrigens nicht gleich bedeutend wie „kalt gegessen“ oder „warm gegessen“, sondern beschreibt vielmehr eine Temperaturcharakteristik jedes Nahrungsmittels, das uns Westlern verborgen geblieben ist.
An apple a day, keeps the doctor away
Die Vorstellung von Gesundheit als Reparatur einer Krankheit wurde in den letzten Jahren von der Eigenwertigkeit der Gesundheit abgelöst. Ernährung als Prävention: Natürlich ist das nicht neu. Im Englischen gibt’s das Sprichwort „an apple a day, keeps the doctor away“. Im Zuge des Paradigmenwechsels in der Gesundheit bekommt aber diese Perspektive mächtigen Auftrieb. Er lässt sich an verschiedenen Phänomenen festmachen: An der Fitnesswelle zum Beispiel, oder an dem aufstrebenden Touristiksegment namens Wellness, besonders aber an der hybriden Prävention. Alle Kanonen werden auf ein Ziel gerichtet: Eine Krankheit soll gar nicht erst auftreten. Wer trotzdem krankt wird, hat was falsch gemacht in seinem Leben (und sei es nur, dass er zu melancholisch war und daher an Krebs erkrankt ist – ein Zynismus, den ich nicht zitieren würde, wenn ich ihn nicht schon mehrmals gehört hätte). Selbstredend gehören auch die Natura-Pläne und Bio-Labels dazu. Das meiste, was man Functional Food nennt, gehört auch hierher. Ihr Ursprung soll in Japan liegen. 1993 kamen im Land der aufgehenden Sonne Lebensmittel auf den Markt, die Foshu (Food for specific health use) genannt wurden. Hierzulande sind es mehrheitlich probiotische Milchprodukte, die uns auf – aus Produzentensicht – geniale Weise dazu bringen, Milch in veredelter (und vor allem teurer) Form zu trinken. Im Marketing und in der Trendforschung hat man die rund 30 Prozent der Bevölkerung, die besonderen Wert auf Gesundheit legen, mit dem Akronym LOHAS etikettiert, das für Lifestyle of Health and Sustainability steht. Sie sind bereit, tiefer in die Tasche zu greifen, wennauf der Packung „gesund“ drauf steht.
Besonders augenfällig wütete der Gesundheitskult gegen die uralte Rauchkultur. In weniger als zehn Jahren wurde die Schweiz von einem Raucherparadies zu einer Raucherhölle, angetrieben von Organisationen wie der Lungenliga (die noch immer nicht genug hat und ihren Feldzug weiter fortsetzen will, bis auch aus dem letzten Loch kein Rauch mehr aufsteigt) und sekundiert von den Damen und Herren in Verwaltung und Politik.
Die meisten Nichtraucher, welche die Anti-Raucher-Gesetze befürworten, sehen nicht, dass sie bald die nächste Zielgruppe für Verhaltensbevormundungen sein werden, zumindest wenn sie zu den fast 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung gehören, die übergewichtig sind. In Kürze werden Deklarationsvorschriften und Werbeverbote dieser modernen Seuche Einhalt zu gebieten versuchen. Das Bundesamt für Gesundheit ist in Stellung. Es rechnet uns vor, dass sich die direkten und indirekten Kosten des Übergewichts seit 2004 auf über 5.755 Milliarden Franken (2009) verdoppelt haben. Wenn das kein Grund zum Einschreiten ist! Auf der Website des BAG heisst es: „Diese aktuellen Zahlen verdeutlichen die gesellschaftspolitische Relevanz von Übergewicht und Adipositas und unterstreichen die Notwendigkeit (Hervorhebung durch Verf.) von Massnahmen zur Förderung eines gesunden Körpergewichts, wie diese im Nationalen Programm Ernährung und Bewegung NPEB 2008-2012 vorgesehen sind.“ Da haben wir’s: Ein Nationales Aktionsprogramm! Die britische Regierung zeigt, wie es gehen könnte (die Briten sind noch dicker als die Schweizer): Während Kindersendungen ist die Werbung für fett- bzw. kalorienreiche Nahrung am Fernsehen untersagt. Der Lebensmittel-Industrie und der Gastwirtschaft sage ich voraus, dass sie ihre Angebote bald mit einem Fettsucht-Label kennzeichnen müssen: Bald wird hinter dem Menu 1 beispielsweise ein grüner Punkt stehen (unbedenklich), hinter Menu 2 ein gelber Punkt („Lieber Gast, wenn Sie sich dies heute zum Mittagessen gönnen, verzichten Sie besser auf ein Abendessen“) und bei Menu 3 ein roter Punkt, der zwingend mit dem Zusatz versehen sein muss, der besagt: „Zuviel davon gefährdet Ihre Gesundheit“.