Zukunft ist meist besser UND schlechter
Festansprache zur Diplomfeier der PH Luzern, 26. Januar 2019
Ich finde, dass unsere Gesellschaft mehr positive und
Niklas Luhmann
mehr negative Eigenschaften hat als jede frühere Gesellschaft zuvor. Es ist heute also zugleich besser und
schlechter.
Sehr geehrte Diplomierte mit ihren Familien, Freundinnen und Freunden
Sehr verehrte Dozentinnen und Dozenten
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Ich habe meine Festansprache mit einem Zitat des Soziologen Niklas Luhmann begonnen. 1987 sind Interviews mit Luhmann unter dem Titel «Archimedes und wir» (1987/139) erschienen. Darin lehnt Luhmann die Vorstellung einer Idealgesellschaft ab. «Eine Vorstellung, wie die Gesellschaft gut oder auch nur besser sein könnte, habe ich nicht», heisst es da. Gefolgt von den bereits zitierten Sätzen: «Ich finde, dass unsere Gesellschaft mehr positive und mehr negative Eigenschaften hat als jede frühere Gesellschaft zuvor. Es ist heute also zugleich besser und schlechter.»
Was dem Wissenschaftler Luhmann möglicherweise recht sein soll – nicht Ideologe sondern Tatsachenbeschreiber zu sein, der sich Wertungen in den wissenschaftlichen Beiträgen enthalten soll – dürfte für wenige stimmen, die den Lehrberuf ergreifen wollen. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie sehr wohl zur Verbesserung der Welt an Ihrem künftigen Platz beitragen wollen, wie gross oder klein dieser Beitrag schliesslich auch ausfallen wird, und dass Sie dafür sehr wohl Vorstellungen einer idealen Welt hegen. Schule und Bildung sind nach wie vor eminent wichtige Hebelkräfte für Verbesserung, insbesondere für die Verbesserung der Chancen jedes Kindes, einen angemessenen Platz in unserer Welt zu finden, wo ihm die Teilhabe und die Teilnahme an den Errungenschaften unserer Zeit in ebenso angemessener Weise möglich sein sollen. Vielleicht geht der Auftrag der Schule gar noch weiter – z.B. zu einer Verbesserung der Gesellschaft selbst beizutragen, sie etwa solidarischer, ökologischer, dialogischer oder weniger rassistisch und dafür gender-sensibler zu machen – kann sein, auch wenn ich persönlich das für eine Überforderung wenn nicht gar für eine Anmassung der Institution Schule halte.
Das soll aber heute nicht mein Thema sein. Ich bin an «es ist zugleich besser undschlechter» hängen geblieben. Denken heisst Unterscheiden. Dazu dienen uns Begriffe und die Syntax. «Entweder Oder» ist nicht gleich «Sowohl als Auch». Für das Verstehen unserer Welt ist der Unterschied eminent.
Mein Thema als Zukunftsforscher ist der gesellschaftliche Wandel. Ich beschäftige mich besonders mit jenen Aspekten unseres Lebens, die sich verändern; überdies damit, wie solche Veränderungen möglicherweise ausfallen werden. Dabei steht immer im Raum: Wird es in Zukunft besser oder wird es schlechter? In meinen zahlreichen Vorträgen vernehme ich, wie die Menschen über die Zukunft denken. Öfter treffe ich auf Menschen, die mit Bangen in die Zukunft blicken, die also davon ausgehen, dass es schlechter wird.
Lassen Sie mich zwei kurze Zukunftsgeschichten erzählen: Sie handeln in der Gegenwart – und ich entwerfe mögliche Zukünfte, aufgrund absehbarer Entwicklungen. Unsere Frage soll sein: Wird die Welt besser oder schlechter? Oder wird sie zugleich besser undschlechter? Und für alle drei Möglichkeiten «besser», «schlechter» und «sowohl besser und schlechter» stellt sich uns die Frage: Was machen wir damit?
Die erste Geschichte: Das entschlüsselte Genom
2004 ist einer bis zu 1000 Forscherinnen und Forschern umfassenden Gruppe ein wissenschaftlicher Durchbruch gelungen, den ich für einen der wichtigsten in der Geschichte der Menschheit halte: Sie haben erstmals den Bauplan eines Menschen entschlüsselt. Seither wissen wir, wie die drei Milliarden Basenpaare auf unserer DNA aufeinanderfolgen. Die Sequenzierung eines einzigen Genoms hatte zehn Jahre gedauert und 1 Mrd. Dollar gekostet – und trotzdem blieben viele Fragen offen. Sie müssen sich das Ergebnis wie ein Wörterbuch vorstellen, das noch ohne Definitionen der aufgelisteten Begriffe auskommen muss: Wir kennen die Gene, aber wir wissen für die allermeisten nicht, wozu sie da sind.
In der Zwischenzeit sind wir weiter – vor allem weil sich die Kosten massiv verringert haben: Vor 10 Jahren hätten Sie Ihr eigenes Genom sequenzieren lassen können, aber Sie hätten dafür 1 Mio. Dollar hinblättern müssen. Vor einigen Monaten aber hat Francis DeSouza angekündigt, dass seine Firma – sie baut Geräte für die vollautomatische Sequenzierung von Genomen – bald die Sequenzierung für 100 Dollar anbieten kann. 100 Dollar ist weniger als eine gewöhnliche Laboruntersuchung kostet, die bei fast jedem Arztbesuch anfällt.
Stellen wir uns vor, dass zu diesem Preis bald hunderttausende Menschen ihr Genom sequenzieren lassen. Stellen wir uns weiter vor, dass wir die genetischen Informationen mit den Krankheitsgeschichten dieser Menschen kombinieren: Dann werden wir bald unermesslich viel mehr wissen über die genetischen Zusammenhänge von vielen Erkrankungen. Die Vision ist, dass wir Erbkrankheiten heilen können, vielleicht auch viele Krebsarten, vielleicht gar Demenzerkrankungen.
Zumal wir zugleich immer bessere Methoden für Gentherapien entwickeln. Vor wenigen Jahren wurde eine Methode entdeckt, mithilfe derer Ärzte Gene editieren können: Präzis, sicher und preisgünstig. Sie kommen in die Lage, einzelne Gene gezielt ein- oder auszuschalten, oder sie umzuschreiben. Man geht davon aus, dass über 4000 Erkrankungen beim Menschen mit einer Veränderung der Gene einher gehen. Ein medizinischer Fortschritt enormen Ausmasses ist greifbar nahe und die Folgen tiefgreifend. Frühzeitige Todesfälle können reduziert werden, die Menschen dürften noch älter werden, Alter dürfte länger beschwerdefrei sein.
Allerdings werden wir damit auch der Biologie ein eigentliches Upgrade verpassen können. Vielleicht werden wir bessere Augen herstellen können. Oder bessere Ohren. Oder Ersatzteile von Organen aus dem eigenen genetischen Material. Einige träumen gar schon von Unsterblichkeit. Ein chinesischer Wissenschaftler hat unlängst bekannt gemacht, dass er die Gene von Zwillingen umgeschrieben hat, um sie gegen den HI-Virus immun zu machen.
Ist diese Zukunft nun besser, schlechter oder sowohl besser als auch schlechter?
Besser auf jeden Fall für Menschen, die an einer bisher unheilbaren Krankheit leiden, und vielleicht bald geheilt werden können. Besser für Eltern, die aufgrund eines Gen-Defektes bisher auf eigenen Nachwuchs verzichten mussten.
Zweifelhafter ist der «Fortschritt», wenn wir Designerbabys produzieren, die superintelligent und bildhübsch, sportlich und mit unverwüstbarer Gesundheit ausgestattet sein werden. Schlechter, wenn Mütter zu pränataler Diagnostik gedrängt werden oder für die Geburt eines Kindes mit Behinderung geächtet werden.
Ich bin überzeugt, dass die «Bio-Transformation», wie ich diese Zukunft nenne, unsere Welt, unsere Vorstellung von Gesundheit, auch unsere Wertvorstellungen verändern werden.
Zweite Geschichte: Die Künstliche Intelligenz
Die zweite Zukunftsgeschichte handelt von Künstlicher Intelligenz. Davon wird schon lange geredet, doch wirklich in Fahrt gekommen ist sie in den vergangenen sieben Jahren. Unter dem Terminus Künstliche Intelligenz wird verschiedenes verhandelt: Die heute bereits angewandte Form nennt sich auch Machine Learning: Künstliche Intelligenz ist in der Lage, in Unmengen von Daten Muster zu erkennen. Die Daten, und das ist das revolutionäre, müssen dafür nicht mehr strukturiert sein – etwa als Zahlenwerte in Excel-Tabellen – sondern können Bilder oder Sprache sein. Die Maschine versteht also in einem gewissen Sinn unsere Sprache. Alexa und Siri sind die Vorläufer, aber weit bessere Applikationen stehen bald zur Verfügung. Solche Maschinen mit Künstlicher Intelligenz bilden also eigenständig Hypothesen, um es in der Wissenschaftssprache zu sagen. Die Anwendungsmöglichkeiten sind unermesslich: Von einem Arztassistenten auf dem Handy, der die Anamnese durchführt und uns eine provisorische Diagnose stellt, bis zu Predicitive Policing, ein Polizei-Computer, der aufgrund von Mustererkennung Verbrechen vorhersagen kann – nicht ein einzelnes Verbrechen zwar, aber das Risiko, dass an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Zeitfenster beispielsweise gehäuft Einbrüche stattfinden werden.
Nehmen Sie die erste Geschichte dazu: Wenn Hunderttausende ihr Genom mit jeweils 3 Mrd. Basenpaaren sequenziert haben lassen und wir deren Krankengeschichten mit in den Datensatz nehmen, wird Künstliche Intelligenz genau jene Entdeckungen über bisher unbekannte Zusammenhänge machen, welche die erwarteten medizinischen Fortschritte bringen dürften.
Eine Stufe höher ist jene Künstliche Intelligenz, die dank neuronalen Algorithmen selbständig dazulernt. Sie lernt, gleich wie Kinder, aus Beobachten und selber Erfahren. Sie wird klüger mit jeder Antwort, die sie von uns erhält. Selbstlernende Maschinen: Werden sie einmal lernen, selbständig noch intelligentere Maschinen zu bauen, intelligenter als der Mensch ist und irgendeinmal gar die Macht über uns übernehmen?
Wird unsere Zukunft besser, schlechter oder sowohl besser und schlechter mit Künstlicher Intelligenz?
Wir werden sie nutzen können, um dezentrale, CO2-freie Energie zu managen. Sie wird künftig ein smartes Mobilitätssystem in unseren Städten ermöglichen. Sie wird uns helfen, besser informierte Entscheide zu treffen.
Sie kann aber auch dazu führen, dass wir einen Arzt erst aufsuchen dürfen, wenn die Künstliche Intelligenz zuvor eine Triage gemacht hat und dabei entscheidet, ob es wirklich einen Arztbesuch braucht oder nicht. Sie kann für die autonome Kriegsführung verwendet werden, so dass smarte Waffen eigenständig entscheiden, wen sie töten und wen sie am Leben zu lassen.
Es gäbe noch etliche Megatrends, deren Auswirkungen zu einer besseren und zugleich schlechteren Welt führen können. Die Weltbevölkerung wächst weiter – der Hauptgrund dafür ist, dass immer mehr Menschen älter werden und immer mehr Kinder überhaupt überleben. Zugleich steigt mit mehr Menschen der Ressourcenverbrauch über die Belastbarkeitsgrenze unserer Erde hinaus.
Wie gehen wir mit dem Sowohl-als-auch um?
Kein Weg ist es, das «Sowohl besser wie auch schlechter» einfach zu leugnen und in den binären Code von gut-schlecht zu verfallen. Schwarzweiss-Denken ist aktuell zwar epidemisch, aber es beleidigt unsere Intelligenz. Die Welt ist nicht in schwarzweiss aufzulösen. Das binäre Denken über diese Welt ist inadequat.
- Es fällt uns in der Regel leicht zu akzeptieren, wenn etwas besser wird. Damit haben wir keine Probleme. Schwieriger ist es, mit jenen Aspekten, die schlechter werden. Es gibt idealtypisch drei Möglichkeiten:
- Wir ignorieren, was schlechter wird. Das kommt dem binären Schwarzweiss-Denken sehr nahe – «Alles wird besser» ist genauso «unter-komplex» wie das Gegenteil «Alles wird schlechter».
- Wir können auch einfach versuchen eine Bilanz zu ziehen: Gibt es mehr positive als negative Aspekte oder überwiegen die negativen? Kommen wir zum ersten Schluss, akzeptieren wir die Nachteile, weil die Vorteile überwiegen.
Oder wir verstehen die möglichen negativen Auswirkungen als eine Herausforderung, die wir annehmen müssen. Die negativen Folgen sind zu bekämpfen, ohne dabei die Vorteile einer Entwicklung auszuschlagen. Wir stellen uns dann den Problemen und suchen nach Lösungen, welche die negativen Auswirkungen lindern.
Idealvorstellungen einer Gesellschaft sind hinderlich, wenn wir sie statisch verstehen: Als einen Zustand, den wir erreichen sollen. Einmal erreicht, ist zugleich das Ende der Geschichte erreicht, weil es dann nur noch zu bewahren gilt, was wir erreicht haben. Aber weil ein Ideal ohnehin nie erreicht wird, schlägt das Gutgemeinte aus Ungeduld oder Wut leicht ins Totalitäre um, wie die Geschichte gezeigt hat.
Idealvorstellungen unserer Gesellschaft sind ein wichtiger Antrieb, wenn wir akzeptieren, dass das Ideal nie erreicht werden kann, dass das Ideal selbst gar historisch ist – sich also verändern wird – dass die Conditio humana beinhaltet, dass wir in einer imperfekten Welt leben und es unsere Aufgabe ist, das beste darin zu versuchen. Die Idealvorstellung gibt uns dann Richtung und Kraft, an unserem Platz unseren Beitrag zu leisten.
Wo immer Sie Ihre nächsten Schritte ins Leben hinführen werden – ob in ein Schulzimmer oder sonst wohin, wünsche ich Ihnen, dass Sie nicht an der imperfekten Welt verzweifeln, sondern die Möglichkeiten nutzen, die sich Ihnen bieten, um etwas in unserer Welt zum Besseren zu bewegen, ohne zynisch zu werden, wenn die Veränderungen sowohl zur Verbesserung des einen, aber zugleich auch zur Verschlechterung des anderen führen können – ja wohl unweigerlich auch führen werden.