Zukunft verstehen
Wie werden wir in zwanzig Jahren leben? Und wovon? Wie werden wir arbeiten? Werden wir zu Sklaven selbstgeschaffener Roboter oder rüsten wir unsere Körper gar zu Cyborgs auf? Wird Europa Wohlstand und Einfluss verlieren? Mit welchen Folgen für unseren Lebensstil? Werden wir im Dunkeln sitzen, kalt duschen und nur noch im Cyberspace Ferien machen?
Die Welt ist im Wandel und wir fragen uns: Wie geht es weiter? Was wird morgen sein? Der Mensch hat die Fähigkeit, sich in andere Zeiten hineinzudenken, sich die Zukunft vorzustellen, sie zu antizipieren und für sie zu planen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die moderne Zukunftsforschung eine lange Ahnenreihe aufweisen kann. In der Antike galt Delphi mit seinem Orakel sogar als Mittelpunkt der Welt. Der Legende nach versetzte sich die prophetische Priesterin in Trance, bevor sie die Zukunft vorhersagte: Pythia sass auf einer Erdspalte, aus der Gase strömten, die sie in einen „hellsichtigen“ Bewusstseinszustand versetzten. Kriegsfürsten und Feldherren suchten ihren Rat und folgten ihrem Ratschlag, der meist in Rätseln erfolgte. So weit die Legende. Die moderne Geschichtsforschung deutet die Vorhersage von Delphi nüchterner: Die Priester waren in erster Linie sehr gut informierte Zeitgenossen. Ihre Prophezeiungen waren Zeitdiagnosen. Die heutige Zukunftsforschung sitzt weder im Nabel der Welt noch kann sie es sich leisten zu halluzinieren. Geblieben ist aber, dass man durch eine kluge Zeitdiagnose viel lernen kann über die wahrscheinlichen Entwicklungen unserer Gesellschaft.
Auf den Punkt gebracht lautet die beunruhigende Diagnose: Wir haben die Zukunft verloren.
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Allerdings leben wir in einer anderen Zeit. Das ist nicht so trivial wie es sich zunächst anhört. Wir erfahren heute Zeit anders als früher. Mit anderen Worten: Unsere Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat sich grundlegend verändert. Auf den Punkt gebracht lautet die beunruhigende Diagnose: Wir haben die Zukunft verloren.
Das bedarf einer näheren Ausführung. Natürlich interessiert uns die Zukunft noch –sogar mehr, als frühere Generationen. Sie beschäftigt uns gerade deshalb mehr, weil wir sie uns immer weniger vorstellen können. Sie ist prekär geworden. Ungewiss. Unberechenbar. Dasselbe ist mit der Gegenwart passiert. Auch sie verstehen wir immer weniger. Nicht der Wandel ist das einzig konstante, wie das Sprichwort sagt sondern die Überraschung ist es. Für unser Verständnis ergibt sich das Künftige immer weniger aus dem vorher gegeben in einer logischen, erklärbaren Weise. Jeden Augenblick könnte ein Ereignis über uns hereinbrechen, das alle Annahmen und Erklärungsansätze über den Haufen wirft. Ein Ereignis, das uns überrascht und keine Analogien in der Geschichte kennt. Ein Ereignis, das unser Bedürfnis nach konsistenter Entwicklung und Herleitung verletzt. Als Folge davon leben wir ohne sinngebenden Bezug zur Vergangenheit und zugleich auch ohne einen solchen zur Zukunft. Zukunft und Vergangenheit scheinen zur Gegenwart geschrumpft, die wie ein Schmelzofen alles was fest war, verflüssigt. Traditionen sind geschliffen, Grenzen niedergerissen, Zeitstrukturen aufgelöst. Und paradoxerweise zieht sich diese allumfassende Gegenwart auch noch auf einen Punkt zusammen. Auf einen Punkt, der das Potential zum Urknall in sich trägt. Jeder Augenblick kann uns überraschen. Damit verlieren wir etwas, was uns extrem wichtig erscheint: Wir verlieren die Kontrolle über Gegenwart und Zukunft und wollen gerade deshalb immer mehr wissen, wie es weitergeht.
In der Permanenz der Überraschung liegt auch begründet, warum der Plan – die klassische Weise, sich Zukunft anzugeignen – heute oftmals scheitert. Plan und Zukunft waren einst Zwillinge. Wer für die Zukunft sorgte, machte sich einen Plan, rüstete die Mittel und schaffte sich an den Etappenzielen ab. Die Vision bestimmte das Ziel, wo man in einer bestimmten Zukunft ankommen sollte, die Strategie beschrieb die Wege dorthin und die Instrumente dienten dazu, auch wirklich anzukommen.
Doch der Plan ist überholt. Er ist Teil des Arsenals einer linearen Zeit, die vorbei ist. Sie wurde abgelöst von der pointillistischen Zeit, so wie die lineare einst die zyklische Zeiterfahrung ersetzt hat. Schauen wir uns diese „Zeit-Reise“ näher an:
Von der zyklischen zur pointillistischen Zeit
Das Schrumpfen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen Punkt nennt der Soziologe Michel Maffesoli die pointillistische Zeit. In seinem Buch L’instant éternel (2003) beschreibt er, wie die Gegenwart nicht mehr der Ort ist, von dem aus wie früher die Zukunft geplant werden kann. Das Wesen der pointillistischen Zeit offenbart sich, wenn man die Unterschiede zu früheren, anderen Zeiterfahrungen erkennt. Vor der Industrialisierung, als die Völker Europas noch in Agrargesellschaften lebten, erfuhren sie die Zeit als einen Zyklus. Die Jahreszeiten vergingen in der immer gleichen Reihenfolge und sie kehrten in derselben wieder. Taktgeber waren die Natur (im Tag-Nacht-Rhythmus und dem Kreislauf der Jahreszeiten) und die kirchlichen Feiertage, die ebenfalls einem Kreislauf folgten und in ewig gleicher Reihenfolge wiederkamen. Die Zukunft in einer zyklischen Zeiterfahrung ist dasselbe wie die Vergangenheit: Es kommt wieder, wie es war. Diesen Kreislauf unterbrachen einzig Katastrophen: Menschen gemachte wie Kriege, Umstürze und Revolutionen oder naturgegebene wie Dürren, Überschwemmungen, Lawinen und Bergstürze.
Wir nennen diese Zeiterfahrung die lineare Zeit, weil sie wie auf einer Linie aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hinauf führte.
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Mit der Industrialisierung veränderte sich auch die Zeiterfahrung. Die Uhr – vornehmlich die Stempeluhr – löste Sonne und Natur als Taktgeber ab. Die Historiker und Philosophen schildern eindrücklich, welcher Disziplinierung es bedurfte, um Menschen auf eine bestimmte Zeit und für eine klar definierte Dauer in die Fabriken zu führen. Wir nennen diese Zeiterfahrung die lineare Zeit, weil sie wie auf einer Linie aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hinauf führte. Ich wähle mit Bedacht die Richtung nach oben. Die Zukunft in der linearen Zeitauffassung war nicht nur grundsätzlich verschieden von der Vergangenheit und der Gegenwart, sie war auch besser als diese. Hier fusst die einst begründete Hoffnung vieler Eltern, dass es ihre Kinder einmal besser haben sollten als sie selber.
Die lineare Zeiterfahrung reicht tief in die Gegenwart hinein. Spätestens seit der digitalen Revolution ist sie aber überholt. Wir erleben Gleichzeitigkeit statt der Abfolge. Wir erfahren die Entgrenzung der Zeit, zum Beispiel der Arbeitszeit: Nichts hat mehr „seine“ Zeit, alles drängt gleichzeitig auf uns ein und will erledigt werden. Die Zeit wird dadurch zusammenhanglos. Allenfalls gelingt es noch im Rückblick eine „Logik“ in den Ablauf der Geschehnisse zu bringen. Informationen und Entwicklungen stürzen auf uns ein, ohne dass wir sie verlässlich vorhergesehen hätten. Mit der Erfahrung der pointillistischen Zeit – die auf einen Punkt geschrumpfte Zeit – geht die Zeitknappheit einher, die um so grösser wird, je mehr Dinge, Erfordernisse und Aufgaben gleichzeitig auf uns einprasseln. Die Zeitfolge verliert die Kraft, Identität zu stiften und Sinn zu generieren.
(Auszug aus Lifestyle 202X. Versuch einer Zeitdiagnose.